Die Bauhausleuchte: Der Mythos einer Designikone

Antonia Dieti

1923 befindet sich das Bauhaus im Umbruch. Walter Gropius, der damalige Leiter der Werkstätten, will die Arbeit in eine neue Richtung weisen. Während dieser Zeit kommt Wilhelm Wagenfeld ans Bauhaus. Fortan, ab 1923, soll eine Einheit von Kunst und Technik an der Kunstschule fokussiert werden. Es geht nicht mehr um die Herstellung von Objekten, die aufgrund des Materials und der aufwändigen Herstellung in das höhere Preissegment, gar als Luxusobjekt, eingeordnet werden, sondern vielmehr um das Schaffen von Objekten, die für eine industrielle Serienproduktion und damit einem großen Anteil der Gesellschaft nützlich sind. In den Jahren 1923 bis 1924 entstehen unter der Werkstattleitung Moholy Nagys die Leuchten mit der Typenbezeichung MT8 und MT9. MT8 ist die Metallversion der „Bauhausleuchte“. Sie besteht aus einer Metallplatte als Fuß, die auf drei kleinen Halbkugeln, welche als Standfüße dienen, ruht. Darüber ist ein Metallrohr als Schaft angebracht, auf welches der Leuchtenschirm in Form einer Milchglasglocke zu schweben scheint. Unter der Bezeichnung MT9 ist die Glasversion bekannt, bestehend aus einer runden, dickeren Glasplatte als Fuß, einem durchsichtigen Glasschaft und wieder der Glocke als Schirm. Sie ist im Gegensatz zur Metallversion, die allein Wilhelm Wagenfeld zugeschrieben wird, unbedingt als eine Zusammenarbeit Wagenfelds und seinem Kommilitonen Carl Jacob Jucker zu verstehen. Ab April 1924 werden beide Leuchten in geringen Stückzahlen aufwändig seriell gefertigt. Auf Messen werden beide Tischleuchten angepriesen und finden dort allerdings nur mäßigen Anklang. Die Objekte sind aufgrund des hohen Verkaufspreises schlichtweg nicht massentauglich. Zudem kamen vermehrt Kritiken auf: Die Leuchten seien nicht funktional, da der Schirm das Licht streut, anstatt es auf einen bestimmten Punkt zu konzentrieren - die Leuchten seien eben für einen Arbeitsplatz ungeeignet. Aus diesen Gründen wird die bis dahin schon geringe Produktionszahl im Jahr 1930 komplett aufgegeben. (1)

Erst nach der Zeit des Bauhauses, im Jahr 1980, feiert die Leuchte ein Revival. Es ist Wagenfeld persönlich, der gemeinsam mit Walter Schnepel, dem Gründer der Bremer Manufaktur Tecnolumen, der Produktion der Leuchte einen zweiten Versuch gibt. Die Leuchte entwickelte sich zunehmend zur Ikone des Bauhauses - trotz des gescheiterten Versuchs, ein gut gestaltetes Massenprodukt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu erzeugen. Gegenwärtig ist die Leuchte, die nur als Original bezeichnet werden darf, wenn sie eben aus dieser Zusammenarbeit entstammt, ein viel geschätzter und sich gut verkaufender Klassiker, der jedoch im Luxussegment eingebettet ist. Aus dem einstigen Misserfolg ist ein Liebhaberstück geworden. Es stellt sich nun die Frage, wie es dazu kam, dass ein Objekt des Bauhauses, das für die Serienproduktion entworfen wurde, dabei für Moderne und zukunftsweisende Ästhetik stehen sollte, etwa ein halbes Jahrhundert benötigte, um die erhoffte Aufmerksamkeit bei einem breiten Publikum zu erlangen. Liegt dies nun an der kritisierten, aber dennoch überzeugenden Kombination aus Form und Funktion oder an der tragisch behafteten Vergangenheit des Bauhauses, welche das Objekt mit einer verführerischen Spannung auflädt?
Die Zeit während des Entstehungsprozesses der Leuchten war eine spannende am Bauhaus. Als 1923 Moholy-Nagy Johannes Itten als Meister ablöste, resultierte neben strukturellen Veränderungen auch eine Veränderung der ergebnisorientierten Ausrichtung der Werkstätten. Wie bereits erwähnt, produzierte das Bauhaus bis zu diesem Zeitpunkt Einzelstücke, gar Kunstobjekte. Moholy-Nagy wollte die Schule in eine zunehmend industriellere Richtung weisen. So wurden die Leuchten für eine Serienproduktion gestaltet – ganz im Sinne einer industriellen Reproduktion. Zu Beginn der 1920er Jahre existierte auch eine entsprechende Nachfrage für solche Objekte. Allerdings konnte das Bauhaus jener Nachfrage nicht gerecht werden, da das Setting der damaligen Werkstätten einer Kunstschule ihrer Zeit entsprach und weniger den benötigten Rahmenbedingungen einer industriell verorteten Produktionsstätte, die die erhoffte Absatzmenge zu einem massentauglichen Preis hätte realisieren können. Folglich musste die Produktion verstärkt auf andere Industriewerkstätten ausgelagert werden, was dazu führte, dass der angestrebte geringe Preis des Produkts nicht durchgesetzt werden konnte. Eine Nachfrage an Leuchten existierte, jedoch für günstige. Der Preis der heute betitelten Bauhausleuchte lag in ihrem Preis weit über dem herkömmlicher Leuchten jener Zeit und so auch weit über dem Budget eines Bürgers der fokussierten Zielgruppe. (2) Heute liegt der Preis bei Tecnolumen für die Leuchte bei etwa 450 Euro. Sogar heute ist dieser Preis für ein Massenprodukt dieser Art recht hoch. Dennoch findet die Leuchte einen relativ hohen Absatz. Doch worin begründet sich nun dieser späte Erfolg im 21. Jahrhundert eines Produkts, das für die Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts gestaltet wurde? Interessant ist, dass die Leuchte, obwohl sie millionenfach gefertigt ist, nicht das Gefühl eines Industrieprodukts vermittelt, sondern noch immer den Charakter eines Kunstobjektes, eines gering produzierten Liebhaberstückes, vermittelt. Vielleicht wäre die Leuchte nicht als anfänglicher Misserfolg verrufen worden, wenn sie nie das Ziel propagiert hätte, massentauglich sein zu wollen, sondern sich von Beginn an Liebhaber gewendet hätte. Dann hätte die Leuchte einmal mehr mit den eigentlichen Werten des Bauhauses gebrochen und wäre den Weg zurück in den Elitarismus gegangen, dem die Schule zu dieser Zeit den Rücken kehren wollte. Weiter bricht die Leuchte im Design mit den Werten der Schule. Zwar ist sie bis ins Detail geometrisch und radikal, doch ist ihre Formsprache nicht rein avantgardistischer Natur. Das Bauhaus, das für Fortschritt und zukunftweisendes Design stand, besitzt mit der Leuchte eine Ikone, die sich traditioneller Formen bedient. Wagenfeld wollte nicht alles neu erfinden, sondern nutzte vertraute Formen aus dem 19. Jahrhundert. Zum Beispiel eine biedermeierliche Öllampe, wie sie 1830 auf dem Porträt des schwäbischen Malers Stirnbrand zu sehen ist. Auch Richard Riemerschmid entwirft Anfang des 20. Jahrhunderts eine Petroleumleuchte im Jugendstil. Beide Objekte sind in Betrachtung klare Referenzen zur heutigen Bauhausleuchte. (3) Besonders die Milchglasglocke entpuppt sich so als keinesfalls neu oder innovativ. Dennoch ist die Leuchte aus heutiger Sicht klar dem Bauhaus zugeordnet - dort ist sie entstanden und die Verwendung ausschließlich geometrischer Formen, die sich wiederum alle aus dem Kreis ergeben, spricht deutlich für die Ästhetik der damaligen Schule.
Der eindeutige Bauhausgedanke wird jedoch heute eher in die Leuchte hineininterpretiert, als dass sie ihn inhaltlich tatsächlich allein transportieren könnte. Früher war diese Interpretation allerdings noch kritischer. Die Leuchte lebt, wie viele Objekte des Bauhauses, vom Mythos der Schule. Beim Beispiel der MT8 und MT9 ist jedoch auch die Leuchte selbst sagenumwoben. Zwar wird der Name Wagenfeld immer in Verbindung mit ihr gebracht, sie jedoch als Wagenfeldleuchte zu beschreiben oder gar zu vermarkten, unterschlägt die Mitarbeit seines Kommilitonen Carl Jacob Jucker erheblich. Der Name Jucker wird oft beiläufig zum Entstehungsprozess genannt, doch ist es eigentlich er, dem laut Bauhaus Publikation „Neue Arbeiten der Bauhauswerkstätten“ von 1925, die Glasversion MT9 zugeschrieben wird. Weiter meldet sich erst 1977 ein weiterer Kommilitone zu Wort: Gyula Pap beschreibt, er hätte die benötigten Teile bereits in die Werkstatt zum Modellbau des Entwurfs geholt, allerdings war er lediglich nicht in der Lage, die Leuchte final zu fertigen, da seine Mutter erkrankte. Er habe später den Vorschlag verbreitet, dass Jucker die Leuchte fertigstellen solle. Später sagte er zu diesem Umstand, dass er nicht vermutet habe, dass eine kollektive Arbeit einmal derartig berühmt werden könne. (4)

Der eigentliche Designer des Entwurfs ist somit fragwürdig: Wer hatte welchen Anteil an welcher Version der Leuchte? Diese Fragen tragen zur Mythenbildung um die Leuchte bei. Nimmt man Wagenfeld als Gestalter an, wird schnell sichtbar, dass sich dieser seit der Gestaltung jener Leuchte auch in anderen Objekten verewigt und bewiesen hat. Die wohl bekannteste Zusammenarbeit bestand mit WMF, für die er unter anderem die Salz- und Pfefferstreuer „Max & Moritz“ entwarf. Sein Werksverzeichnis umfasst mittlerweile etwa 600 Objekte. Der Leuchte kommt somit nicht nur der Name Bauhaus zugute, sondern der nun im Vergleich zu den zwanziger Jahren auch deutlich etablierte Name Wilhelm Wagenfelds.
Ein weiterer Aspekt, weshalb die Leuchte erst lange nach dem Bestehen des 1919 gegründeten Bauhauses einen so großen Erfolg feiert, ist die Singularität. Andere Bauhausklassiker, wie der Freischwinger von Mies van der Rohe, wurden nach ihrer Entstehung bis dato immer wieder kopiert und adaptiert. Wagenfelds Leuchte hingegen verdankt es dem Misserfolg des Objektes selbst, dass nie Interesse darin bestand, es zu kopieren oder weiterzuentwickeln. So wurde sie nie zu einem tatsächlichen Massenartikel und blieb bis heute singulär. Sie behält sich so eine Einzigartigkeit und wird zum Dingdenkmal. (5) Zudem war es Wagenfeld persönlich, der sie wieder auferstehen ließ. Die Leuchte, wie sie heute bei Tecnolumen erhältlich ist, ist dem 1924er Modell enorm detailgetreu nachempfunden. Das lässt sich beispielsweise darauf zurückführen, dass für den Prozess der Herstellung die Originalskizzen verwendet wurden. Wagenfeld musste die Leuchte nur geringfügig ändern bzw. optimieren, um einer maschinellen Fertigung in großer Auflage gerecht werden zu können. Dennoch bedeutet das nicht, dass nun aufgrund der schon lange erhofften und schlussendlich eingetretenen Reproduktion und der vorangegangenen Fertigungsoptimierungen jener beschriebene Wert des Objekts verloren geht. Dieser Zusammenhang ist vielmehr als eine Opimierung zu verstehen, die gleichzeitig vom einstigen Urheber selbst vorgenommen wurde. Das heißt, die Tecnolumen-Leuchten haben sich tatsächlich etwas des originalen Wagenfelds gewahrt und machen bis dato das „echte“ Bauhaus jedermann zugänglich. Dies ist auch letztlich der größte Aspekt, der den heutigen Erfolg der Leuchte erklärt: der Name Bauhaus bzw. der damit verbundene sentimentale Blick auf einen Mythos einer vergangenen Epoche. Tatsächlich erst nach dem Bestehen des Bauhauses entwickelte sich die bis heute so populäre Marke bzw. das Image Bauhaus. Ein Name, der mit weiteren großen Namen wie Kandinsky, Bayer, Bill und Renner geschmückt wird. Der Begriff vermittelt Werte wie Klarheit und Sachlichkeit. Er steht für ein internationales neues Denken. Und die Leuchte wurde ein symbolhaftes Relikt jener Zeit, das diese Werte verkörpert.